Musikalisches Lebenselixir: Mariachis in Mexiko

Musikalisches Lebenselixir: Mariachis in Mexiko

Sie beschwören die Liebe und die Schönheit, die Heimat, die Revolution und den Tod: die Mariachi-Musiker sind die Romantiker Mexikos. Es gibt sie im ganzen Land – von der Halbwüste Chihuahuas an der texanischen Grenze bis zu den Dschungeln Yucatans. Doch nirgendwo kann man sie so geballt erleben wie auf der Plaza Garibaldi, ihrem berühmten Treffpunkt im Herzen der Hauptstadt.

 

Der Platz liegt am Rand des historischen Zentrums von Mexiko-Stadt zwischen Garküchen, Tanzschuppen und einer sechsspurigen Verkehrsachse. Auch wenn weit und breit kein einziger Stand zu sehen ist: Das Areal ist ein riesiger Markt. Allerdings handelt man hier nicht mit Gemüse, Hühnern oder Auspuffrohren. Die Ware der Plaza Garibaldi ist Mariachi-Musik. Jeden Tag treffen sich hier unzählige Kapellen und verkaufen ihre Lieder. Man mietet sie für ein Ständchen, eine Stunde oder für die ganze Nacht. Vor allem wenn es dunkel ist, erklingt auf dem Areal eine Kakophonie aus Gitarrenrhythmen und Geigenklängen, Trompetengeschmetter und Männerarien. Natürlich stimmt auch die Optik: Da sind etwa die zwölfköpfigen Cowboy-Ensembles in bordeauxroter Galatracht mit schirmgroßen Sombreros und Zierknöpfen aus echtem Silber. Da sind die Einzelgänger mit Poncho über den Schultern und Zigarre zwischen den Goldzähnen, als seien sie einem Italo-Western entstiegen. Und sind da sind die traurigen Gestalten mit zerschossenen Jacken und ausgebleichten Halsschleifen, die gerade genug verdienen, um ihre Familien durchzubringen. Tag für Tag und Nacht für Nacht machen sich alle Konkurrenz – am Wochenende legen sich hier nicht weniger als 2000 dieser lebenden Musikboxen ins Zeug.

 

Der Mariachi war bis Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts ein bäuerliches Phänomen. Im weißen Gewand der Landarbeiter zogen die Musikanten durch das zentrale westliche Mexiko. Irgendwann heuerten sie auf einer Hazienda an und spielten dort für ein regelmäßiges Salär. Mit Beginn der mexikanischen Revolution von 1910 strömten sie in die Städte, verdingten sich auf öffentlichen Plätzen, kamen zu Geld und kleideten sich nun wie ihre einstigen Gebieter: In den zwanziger Jahren wurde der Anzug des mexikanischen Herrenreiters zu ihrem Markenzeichen – enge Hose mit Silberornamenten, kurze Jacke, bestickter Gürtel, Cowboy-Stiefel, Halsschleife und Sombrero. Mehr als an alten Traditionen orientierten sich die Bands nun am Geschmack und an den Wünschen ihres Publikums. Dessen Einfluss ließ ihr Repertoire nach und nach zu einer unübersichtlichen Mischung heranwachsen, zu der auch Walzer und Polkas gehören. Heute haben manche Mariachis bis zu tausend Standards im Kopf.

 

Nach und nach entwickelte sich Mexiko-Stadt zum Zentrum der Urbanisierung der Mariachi-Kultur. Vor allem die Plaza Garibaldi wurde schnell zu ihrem Mythos. Davon erzählen Denkmäler wie jenes von Tomás Méndez Sosa, dem Vater des Rührstücks Cucurucucu Paloma. Wie ein Feldherr wacht er über den Platz. Neben ihm stehen Lola Bertrán und Maria de Lourdes auf ihren Granitsockeln – zwei der wenigen Damen, die sich in der Macho-Welt des Mariachi einen Platz ersingen konnten. Andere Legenden posieren als bonbonfarbene Porträts an den Wänden des Tenampa. Das 1923 gegründete Lokal an der Plaza Garibaldi gilt als der Kreissaal der Mariachi-Bewegung von Mexiko-Stadt. Die Karrieren einiger ihrer berühmtesten Söhne wie Pedro Infante oder Jorge Negrete erlebten hier ihre Geburtsstunden.

 

Es war die Zeit der letzten Revolutionsjahre als der Mariachi zu einem patriotischen Symbol ersten Ranges aufstieg. Seit Alvaro Obregóns Regentschaft in den zwanziger Jahren setzten mexikanische Präsidenten den Mariachi bei politischen Veranstaltungen ein oder subventionierten ihn wie das spätere Staatsoberhaupt Lázaro Cárdenas. 303210_10150405798697985_2057483224_n_JG_FOCDie Musik sollte Mexiko endlich zu einer klaren Identität verhelfen – die spanischen Konquistadoren vermischten sich Jahrhunderte zuvor mit den präkolumbianischen Indianern und hatten die Mehrheit der Mexikaner zu Mestizen ohne historischen Halt gemacht.

 

Wer auf der Plaza Garibaldi nach der Quintessenz des Mariachi fragt, bekommt auch profanere Antworten. „Es ist eigentlich ganz einfach“, sagt einer der Musiker, „im Grunde geht es darum, eine Frau herumzukriegen“. Fast drei Viertel seiner Lieder seien dem Liebeswerben gewidmet – zur Not auch durch einen Telefonhörer, wenn die Angebetete gerade nicht greifbar sei. Doch die Mariachis sind nicht nur Liebesboten. Man ruft sie ebenso, um eine chancla zu intonieren. La chancla ist die Bezeichnung für einen abgetretenen Schuh und ein Klassiker, mit dem sich stilbewusste Mexikaner ihrer Freundin entledigen. La chancla que yo tiro no la vuelvo a levantar – „Die Latsche, die ich wegwerfe, hebe ich nicht wieder auf“, so lautet die Botschaft an die Abservierten. Doch die Frauen schlagen zurück. Rata de dos patas, „Ratte auf zwei Pfoten“ heißt ein beliebter Trennungssong, mit dem emanzipierte Damen im Rosenkrieg auf der Plaza Garibaldi ihren Liebhabern den Laufpass geben.

 

Laufpässe um fast jeden Preis zu vermeiden, ist das Geschäft der „Greifer“ vor dem westlichen Eingang des Gevierts. Im Dieselruß der Avenida Lázaro Cárdenas springen sie wieder und wieder mit Todesverachtung ins Verkehrsgebrüll der Magistrale, recken Visitenkarten ins Scheinwerferlicht, weichen im letzten Moment zurück. Auf den Pappen stehen die Namen ihrer Bands: Nacht für Nacht fischen Hunderte von Mariachis im Blechstrom zwischen der Plaza Garibaldi und dem Palacio Bellas Artes nach einem zusätzlichen Engagement. Alle verfügen über eine mehr oder weniger treue Stammkundschaft und zählen sich zur gehobenen Mittelklasse ihrer Zunft. Ihr Liedgut liefern sie frei Haus. Auf Geburtstagsfeiern, Junggesellenabenden oder für Heiratsanträge. Dass die Konkurrenz nicht schläft, belegen ihre Visitenkarten: A sus ordenes 24 horas, „rund um die Uhr zu Diensten“ – dieser Hinweis darf auf keinem der Kärtchen fehlen.

 

Nach diesem Motto lebt die gesamte Plaza Garibaldi. Hier ist die ganze Nacht Betrieb. Und unweigerlich zieht der Platz jene Schattengestalten an, die auf ihm Zuflucht vor der Ernüchterung des Morgengrauens suchen. Weit nach Mitternacht stehen Betrunkene schwankend vor den Kapellen, zählen umständlich ihr Geld und kontrollieren, ob es noch für einen Gassenhauer reicht. Liebespaare turteln tequilaselig in den letzten Klangwolken vor Sonnenaufgang. Manchmal steuern auch Stocktrunkene ihr Auto an den Rand der Plaza Garibaldi, um sich und der nicht weniger bezechten Geliebten eine Serenade zu spendieren. Wer sie alle beobachtet, versteht spätestens jetzt: Die Musik der Marichis ist viel mehr als nur Musik. Sie ist das Lebenselixier der Stadt. Und wahrscheinlich ganz Mexikos.

Wolf Weyergraf

Möchten Sie auch einmal ein Lied von den Mariachis gespielt bekommen? Dann können Sie das auf einer unserer Reisen durch Mexiko!